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DAS ORAKEL: EINE ERINNERUNG.

WENN man Nachts nicht schlafen kann.

Wären die Menschen oder wenigstens einige von ihnen, schon einmal auf den Gedanken gekommen, am Morgen, wenn sie nach einer schlaflosen Nacht aufstehen, alles das niederzuschreiben, was ihnen durch Kopf und Herz gegangen ist, während sie schlummerlos gelegen welch eine Fülle merkwürdiger Erlebnisse würden wir kennen lernen, welch eine zweite Welt.

Denn für uns vom Sonnenlicht abhängige Geschöpfe, ist und bleibt die Nacht eine andere Welt, und wenn uns der Schlaf nicht zu Hilfe kommt und unter seinem Mantel geborgen, uns hindurchfürt durch die Schluchten der Finsternis, ist es eine Welt des Schreckens. Die Vernunft, die unseren Tag regirt, verliert ihre Macht; elementare Gewalten, gegen die wir uns vergeblich sträuben, gewinnen die Oberhand; alle Gefüle nehmen kolossale Gestalt an, sie unterjochen und erschlagen uns. Und neben dieser krankhaften Steigerung unseres Empfindungslebens stehen Fähigkeiten in uns auf, von denen wir bei Tage, wenn uns die Aufgaben des Lebens in Anspruch nehmen, nichts wissen noch ahnen. Unsere Phantasie, unheimlich stark wie die Phantasie des Traumes, und doch ohne die süsse Selbstvergessenheit des wirklichen Traumes überspringt Jahre und Jahrzehnte, rafft unser ganzes Leben zusammen und schleppt es an uns vorbei.

Wir erinnern uns.

Aber nicht denkend, wie am Tage sondern sehend, fühlend, schmeckend, riechend, mit allen Organen und allen Sinnen, wie begabt mit dem zweiten Gesicht. Wir leben das Erlebte. noch einmal.

Gesichter, die wir längst vergessen, sind plötzlich greifbar wieder da; Stimmen, die wir einmal, als wir Kinder waren, gehört und seitdem nie wieder, sprechen zu uns mit so bekanntem Klange, als hätten sie gestern zum letzten Male gesprochen.

Und ein solches Gesicht war es, das neulich in einer solchen Nacht plötzlich aus der Vergangenheit wieder vor mir emportauchte, eine solche Stimme, die wieder zu mir sprach.

Das Gesicht gehörte einem Jungen an, einem dicken, fetten, wie man zu sagen pflegt, kugelrunden kleinen Jungen, mit dem ich ein viertel Jahr lang in Halle auf dem Pädagogium als Schüler zusammen war. Ganz deutlich sah ich ihn wieder, in seinem Jäckchen von grünem Tuch, in seiner Weste, die immer in die Höhe gerutscht war, seinen grauen Hosen, die immer etwas zu kurz waren, mit seinem grossen runden Kopf, der immer etwas vornüber hing und auf dem er eine Wolkenschieber-Mütze von dunkelblauem Stoff trug.

Knaben, die so aussehen, haben unter ihren Mitschülern meistens einen schweren Stand, sie werden gehänselt und geneckt. Es müsste denn sein, dass sie sich durch besondere Fähigkeiten auszeichneten, oder durch Körperkräfte in Respect zu setzen wüssten. Beides aber war bei dem kleinen Dicken nicht der Fall. Er gehörte durchaus zu den Mittelgewächsen der Menschheit; vielleicht stand er sogar noch etwas darunter.

In der Klasse war er kein Licht, nicht gerade faul, aber immer träumerisch und verschwommen; ausserhalb der Klasse war er kein Held, weichlich, beinah furchtsam, verschlossen, mit einem Worte, wie man in der Schuljungensprache sagt "schlapp."

Das zeigte sich besonders beim Turnunterricht, der im Pädagogium mit Eifer betrieben wurde. Gleich nach den ersten Probeleistungen war der kleine Dicke in die unterste Turnriege gesteckt worden, in der sich die kleinsten und schwächsten befanden, und auch in der war er so ziemlich der Letzte.

Ein allgemeines Halloh erhob sich, wenn "Mops"-das war der Spitzname, mit dem er am ersten Tage seines Eintrittes getauft worden war-am Klettertau emporklimmen

sollte. Ampelnd und strampelnd mit Händen und Füssen, arbeitete sich der unbehilfliche kleine Körper ein paar Fuss in die Höhe, dann machte er keuchend halt, und wie ein Fisch, der nach Luft schnappt, hing er droben fest, bis dass ein ärgerliches "Na komm nur wieder runter" ihm das Zeichen gab, dass er herabrutschen durfte. Einige Hiebe mit dem Tauende über das Hinterkastell, das wie ein rundes Polster unter der grünen Jacke hervorkam, schlossen regelmässig den verunglückten Kletterversuch ab.

"Ein Muttersöhnchen "-das war das allgemeine Urteil über ihn, denn mit der ganzen Grausamkeit, mit der Schuljungen den Schwächen ihrer Kameraden nachzuspüren pflegen, hatte man sehr bald herausbekommen, dass er zum ersten Mal aus dem Elternhause war und dass er Heimweh hatte.

Heimweh! Im Stillen hatten es wohl die meisten, die da im Pädagogium sassen, vielleicht alle; aber wer wird denn so etwas zeigen! Solche Schlappheit!

Auf der Stube, auf der er untergebracht war, sass er immerfort an seinem Tisch. Arbeitete er? Nein, er schrieb Briefe. Immerfort mit grossen ungelenken Buchstaben Briefe und immerfort an die Mutter zu Hause. Mit Gewalt beinahe musste ihm der Stubenälteste das Papier fortnehmen und ihn hinaustreiben, dass er den vorgeschriebenen Nachmittagsspaziergang im Garten der Anstalt machte.

Und dann kam ein Entdeckung die allem die Krone aufsetzte Nach den grossen Sommerferien war er ins Pädagogium eingetreten; zu Weihnachten stand ihm zum ersten Mal die Gelegenheit bevor, dass er wieder zu den Eltern nach Haus kommen würde. Man entdeckte, dass er sich einen Kalender gemacht hatte. Soviel Tage, als noch bis zum Beginn der Weihnachtsferien waren, soviel senkrechte Striche hatte er auf einen Bogen Papier gesetzt. Jeden Abend strich er eine der senkrechten Linien mit einer Wagerechten durch -wieder ein Tag weniger. Und vom Morgen bis zum Abend gab es für ihn nur einen Gedanken, dass er heut Abend wieder einen Tag ausstreichen würde.

Als das bekannt wurde, ging es wie der Teufel über den armen Kerl her:

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Mops, wie steht's mit dem Kalender?" "Mops, wieviel

Tage sind's noch bis Weihnachten?" "Mops, der Direktor hat gesagt, Du darfst zu Weihnachten nicht nach Haus." Jedesmal, wenn der Junge dieses Letztere hörte, wurde er leichenblass, obschon er wusste, dass es nur ein schlechter Spass war. Das verursachte alsdann jedesmal ungeheure Heiterkeit ; er war doch zu dumm der Mops! Auf alles biss er an!

Inzwischen war es Winter geworden, November, und kalt. Der Turn-Unterricht fand jetzt in der geschlossenen Halle statt; der Platz, wo zur Sommerszeit im Freien geturnt wurde, lag einsam und verödet.

An einem Nachmittag, als wir Haus-Scholaren --so benannten die Insassen der Anstalt sich in Winterüberzieher eingeknöpft, unseren gewohnten Spaziergang im Garten machten, bemerkte ich, dass sich an der Mauer die den Turnplatz vom Garten abschloss, eine Ansammlung bildete. Mehrere Scholaren standen daselbst, die lachend andere heranwinkten.

Mit meinen Spaziergangsgefährten trat ich hinzu. Man bedeutete uns, leise zu sein. "Mops turnt" hiess es mit unterdrücktem Kichern. Er sollte nicht merken, dass er beobachtet wurde.

"Mops turnt?" Wir blickten über die Mauer, die nur einige Fuss hoch war, auf den Turnplatz hinunter, der etwas vertieft lag--wahrhaftig.

Auf dem Platz, wo die Klettergerüste, die Barren und Recke verlassen standen, die Hände in den Taschen seines Ueberziehers, ging der Junge mutterseelen allein hin und her.

Er schien über irgend etwas nachzudenken. Sein dicker Kopf hing noch weiter vorn über als gewöhnlich. Dabei hielt er die Augen fortwährend auf den Schwebebaum gerichtet, der inmitten des Raumes stand.

Endlich schien er zu einem Entschluss gekommen zu sein; er kletterte auf den Schwebebaum hinauf, so ungeschickt, dass er beinahe im nämlichen Augenblick nach der andern Seite. wieder hinuntergepurzelt wäre. Nur energische, stumme Winke der Aufpasser dort oben verhinderten, dass schon jetzt ein lautes Gejohle ausbrach.

Was in aller Welt machte der komische Kerl? Er überlegte offenbar, ob es ihm gelingen würde, auf dem Schwebebaum

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