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beschränkt, und in Folge dessen vielleicht etwas zu kurz gekommen, muss man es durch geschickte Anpassung wieder einzubringen suchen. Auf die Gefahr hin, ein Streber genannt zu werden als ob nicht selbst der ideale Goethe dem immer strebend sich Bemühenden die Krone zuerkannt hätte! sich den Wünschen der Machthaber gefügig zeigen, in dem neuen Kurs zu steuern wissen, vorsichtig sein in der Wahl seiner Freunde, Feinden, denen von vorn nicht gut beizukommen ist, in den Rücken fallen, lieber noch in den Rücken fallen lassen von irgend einem Mohren, der gehen kann, wenn er seine Schuldigkeit gethan und so alle Künste üben, von deren rücksichtsloser Anwendung der Nietzsche'sche Uebermensch nicht zurückschrecken darf, will er sich in dem erdrückenden Gewimmel der Herdenmenschen den ihm gebührenden Raum schaffen. Wobei er denn freilich in eine Reihe höchst unbequemer Widersprüche geraten kann mit seinem Herzen, das von Haus aus gut und weich ist, und seinem Verstande, der das fatale logische Denken nicht lassen will. Und Herz und Verstand raunen einem zu, dass die Sache der sozial-demokratischen Herdenmenschen, bei Licht besehen, eigentlich recht viel für sich hat; ist denn wirklich, was dem einen recht, dem andern billig? Nach Utopien wird die Reise freilich nicht gehen, aber vielleicht doch nach einem Lande, wo die armen Teufel, wenn nicht ihr sonntägliches Huhn im Topf, so doch mit Weib und Kind ein leidliches Auskommen haben. Und dann, man ist ein geistreicher Mensch. Soll einem da die Angst nicht Spass machen, mit der die beati possidentes lauschen, ob der Bataillonschritt der Enterbten etwa schon herandröhnt, oder ob man noch die fällige Couponserie in Ruhe abschneiden kann? Auch ist die Intelligenz, die diese Herdenmenschen an den Tag legen, eigentlich respektabel, und Bebel doch der Einzige im Reichstage, den anzuhören sich der Mühe verlohnt. Und dann ihre straffe Disciplin, ihr organisatorisches Geschick, ihr Ueberzeugungsmut in einer Welt, in der sonst keiner mehr von irgend etwas überzeugt ist, die Schneidigkeit, mit der sie in Schrift und Wort für ihre Doctrinen eintreten ! Dazu das dunkle Gefühl, dass in möglicherweise bereits absehbarer Zukunft nicht dem Ueber-, sondern dem Herdenmenschen die mit Telegraphen- und

Telephondrähten übersponnene, von Eisenbahnzügen und Dampfern nach allen Richtungen befahrene, bald bis in die letzten Dörfer elektrisch beleuchtete Erde gehören wird! Schliesslich, lieber Freund, auch Dich drückt der Schuh an mehr als einer Stelle. So denn, recht bedacht: von diesen, übrigens höchst unerfreulichen, Herdenmenschen tua res agitur!

Dass eine, auf so andre materielle und ökonomische Basis gestellte, in ihrer Gefühlsweise und Denkungsart, ihren Strebungen, Wünschen, Hoffnungen gründlich veränderte Welt sich nicht wiederfindet in dem Spiegelbilde, welches Litteratur und Kunst vor dreissig Jahren ihren Menschen zeigte und getrost zeigen durfte, weil es deren treues Conterfei war, kann uns nicht Wunder nehmen. Hatte sich das Objekt gewandelt, musste auch das Bild ein anderes werden.

Und das in zwiefacher Hinsicht: stofflich und formell. Es gab etwas anderes zu sehen, und man sah dieses andere anders.

Denn mit der unerhörten Bereicherung der Stoffwelt hatten sich auch die Organe der Beobachtung in seltsamer Weise geschärft, war die Methode der Untersuchung eine viel feinere, exactere geworden. Wo man sich früher auf seine beiden gesunden Augen verlassen, nahm man jetzt das Mikroskop zu Hilfe; der Maler, der sich sonst mit einer Skizze seines Objektes begnügt, wagte nicht an die Ausarbeitung zu gehen, bevor er die Richtigkeit seiner Studie durch eine Photographie kontrolirt; die Leser, die ehemals zufrieden gewesen waren hatte ihr Romancier die vorgeführte Gesellschaft in ihren grossen Zügen dargestellt, verlangten jetzt von ihm Detailstudien. Der Dichter verlangte sie von sich selbst und, wenn er einst die Liebe geschildert, wie Essen und Trinken frei präparirte er sich nun zu diesem Zweck durch eingehende physiologische Studien. Alles sollte im hellsten, klarsten Licht, im Freilicht stehen. Die angedeutete verschleierte Wahrheit tat es nicht mehr; es musste die vérité vraie, die ganze, volle, nackte Wahrheit sein; nicht die sogenannte poetische, sondern die der Wissenschaft, ohne deren Autorisation der Künstler keinen Schritt mehr wagte. Dann aber freilich auch alles wagte, wofür sie einen Freibrief hat; schien

es der Darstellung förderlich, keine schreiendste Farbe auf der Palette behaltend, kein Wort in seinem Vocabularium, mochte es noch so fürchterlich in keusche Ohren klingen.

So kam die neue Kunst und Litteratur in Deutschland, so kam sie auf der ganzen Welt zu Stande, wobei es ganz gleichgiltig ist, ob bei dieser Umhäutung die eine Nation der andern ein paar Jahre voraus war, oder hinter ihr zurückblieb. Das hing lediglich von dem langsameren oder schnellerem Tempo der Wandlung der Kulturverhältnisse des betreffenden Landes ab. Auch mit der sklavischen Gefolgschaft, in welche bei dem Wettkampf um den prägnantesten litterarisch-künstlerischen Ausdruck des Zeitgeistes eine Nation von der andern zu geraten schien, hat es so viel nicht auf sich. Soll das Contagium wirksam sein, muss es einen wohl vorbereiteten Boden finden. Ibsen hätte sich nicht Deutschland erobern können, wären nicht tausende deutscher Herzen bereits vorher gut ibsenianisch gewesen; und wenn, wie es scheint, Wagners Siegeszug in Frankreich unaufhaltsam ist, so wird damit nur der Beweis geliefert, dass die gallischen Nachbarn schon längst sehnsuchtsvoll harrend am Fuss ihres Hörselberges standen, und nur der Zauberer zu kommen brauchte, der das Sesam sprach.

Haben wir es demzufolge in diesen Bewegungen mit einer Naturnotwendigkeit zu thun, ist es bare Thorheit, gegen den Stachel zu löcken und sich über Freilichtmalerei, den naturalistischen Roman, das naturalistische Drama, die unendliche Melodie zu ereifern, als über etwas, das besser nicht wäre. Sie sind. Und weil sie sind, müssen sie ihre Existenzberechtigung haben; sonst wären sie eben nicht.

Anders liegt die Sache, könnte sie wenigstens liegen, wenn wir diese Erscheinungen nicht auf ihre Existenzberechtigung prüfen, sondern auf ihr Verhältnis zu den ewigen Kunstgesetzen.

Aber giebt es deren? Sind sie nicht ein Aberglaube, dessen sich ein aufgeklärter Mensch zu schämen eine Voreingenommenheit, die er mit andern der Art so schnell wie möglich loszuwerden hat?

Die Neuern von der strikten Observanz behaupten es. Nach ihnen ist, was man früher in einem Gemälde Composition

nannte, in einem Drama Handlung (mit dem obligaten Helden), im Roman Ordnung der Begebenheiten mit Anfang, Mitte und Abschluss, in einem lvrischen Gedicht den Grundaccord, auf den das Stück abgestimmt sein musste alles eitel Convention, überwundener Standpunkt, atavistischer Rückfall in abgelebte Anschauungen.

Man braucht kein Pedant zu sein, um so weit nicht zu gehen; vielmehr anzuerkennen, dass in jedweder Kunst gewisse Gesetze existiren, die, weil sie aus ihrem Wesen resultiren, nicht ungestraft verletzt werden können. Eine freieste Bewegung innerhalb der Grenzen dieser Gesetze soll und muss erlaubt sein. Es soll und muss zugegeben werden, dass ein Drama ohne Monologe, eine Oper ohne Arien und Chöre - Dinge, die man früher für obligatorisch hielt sehr wohl bestehen und ein vortreffliches Drama, eine ausgezeichnete Oper sein kann; und - vice versa. Ledig der Fesseln, soll jeder in seiner Kunst wagen dürfen, wovon er den Beweis durch die Tat zu führen vermag, dass er es wagen darf. Wobei dann vielleicht dem ruhigen Zuschauer die Beobachtung sich aufdrängt, dass nicht alle frei sind, die ihrer Ketten spotten; und gar mancher sein künstlerisches Rüstzeug, ohne es zu wollen und zu wissen, einer inneren Notwendigkeit folgend, aus demselben Arsenal holt, das er feierlich für eine Rumpelkammer erklärt hat.

Das im Einzelnen nachzuweisen durch die sorgsam geführte Vergleichung der Werke unserer modernen Koryphäen mit den besten der vorangegangenen Periode, durch die Klarlegung der hinüber und herüber leitenden zarten Fäden, wäre eine dankbare Aufgabe, die wir hier nicht anstellen können, der sich aber die vornehmen kritischen Journale, die Litteraturprofessoren und Kunstgelehrten, die es ehrlich mit ihrer Wissenschaft meinen, nicht entziehen dürften. Dass für die Producirenden selbst der Paragraph des Code Napoléon: La recherche de la paternité est interdite sacrosankt ist, begreift sich leicht. Aber für die Wissenschaft sollte er es nicht sein. Und wie mühelos und sicher wäre nicht oft die Vaterschaft nachzuweisen ! Leider scheint es, als ob heute die Burg, in welcher die wohnen, denen es nur um die Sache zu thun ist, viele leere Räume hat, und gar niemand mehr auf der bekannten höhern Warte stehen mag, sondern sich-wie weiland die athenischen

Bürger in unruhigen Zeiten -- gedrungen fühlt, Partei zu ergreifen. Zum grossen Schaden der Sache, die dabei immer heilloser verfahren wird. Bei dem Streit, ob Freytags "Journalisten," oder Hauptmanns "Weber," Gutzkows "Ritter vom Geist," oder Sudermanns "Es war," Rietschels "Lessing," oder Begas' "Schiller," Knaus' "Goldene Hochzeit," oder Liebermanns "Harlemer Schweinemarkt," Webers "Freischütz," oder Wagners "Tannhäuser" das grössere Kunstwerk ist was kann dabei viel herauskommen? Desto mehr, scheint mir, bei der lichtvollen Analyse der Gründe, weshalb damals so, wie es der Fall, gedichtet, gemeisselt, gemalt, componirt werden, und heute mit dem veränderten Was auch das Wie sich wandeln musste.

So dürfte denn wohl der letzte Schluss sein, dass man Kunst und Kunstanschauungen seiner Zeit, wie die Jahreszeiten, wie das Wetter des Tages, mit dem nötigen Gleichmut hinzunehmen hat. Auch sich lieber nicht den Kopf darüber zerbricht, cine wie lange Dauer wohl ihnen beschieden sein mag. Vielleicht hat das Pendel noch längere Zeit zu schwingen, bevor es seinen äussersten Punkt erreicht; vielleicht ist es schon in der rückgängigen Bewegung.

„Und," sagt der geistvolle Muther am Schluss der Einleitung seiner Schilderung der neuesten Phase moderner Malerei : "es ist leicht möglich, dass, wenn die Strömung, die uns jetzt umflutet, vorübergerauscht ist, und statt auf einen neuen Parnass vielleicht in die alte Gemäldegalerie geführt hat, äusserst wenige von denen, die heute bewundert werden, aufrecht stehen bleiben."

Drastischer könnte dann freilich das orphische Wort nicht illustrirt werden, dass, während alles in beständigem Fluss ist, alles beim alten bleibt.

FRIEDRICH SPIELHAGEN.

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