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Nicht die Sklaven der Mode allein, die Raffet schätzen; weil er mit allem das Empire Berührenden jetzt verherrlicht wird, standen vor diesem Werke des so wunderbaren, einfachen und herzlichen Künstlers, sondern viele aus dem Volk, viele Naive, viele, die da in ehrlicher Rührung verweilten. Von dieser einen Lithographie ging es wie ein Ruhmesleuchten aus, man fühlte, dies sei ein Werk, berufen zu ewigem Ruhm wie Rembrandts Radirungen: dieses Hundertguldenblatt unserer Zeit zeigt die "nächtliche Parade." Napoleon ist tot, die Soldaten, ruhen in ihren Gräbern; da erweckt sie Napoleons Ruf und ein allgemeines Reiten beginnt, das keinen Widerstand kennt, rastlos, unhörbar. Die Pferde haben Flügel an ihren Hufen, gleichmässig die Köpfe auf die Brust gebeugt, sitzen die Kürassiere darauf; aus den Nüstern der Tiere bricht Feuer. Unendliche Reihen von Kriegern sausen vorüber niemand weiss besser als Raffet das Gefühl der Menge, das Gefühl der Unendlichkeit einer ganzen Armee in den kleinen Raum eines bedruckten Blattes einzuschliessen. Diesen unendlichen Reihen voran saust der Tod, auch er in Soldatenuniform, auch er zu Pferde, sein Totenhaupt ist mit seinem grinsenden Lächeln den Scharen, die er, ohne es nötig zu haben, anfeuert, zugewendet. Doch seltsam, wie unheimlich diese tragischen Scharen auch wirken, kein Gefühl der Pein stellt sich ein, nur eins einer idealistischen Begeisterung. Und hinten in weiter Ferne matter Nebel, lichter, grauer Nebel, in dem weitre ungezählte Scharen marschiren, und zwischen Wolkenstreifen sieht man den Mond und im bleichen Mondlicht, weit, weit in der Ferne, ganz, ganz klein durch die Entfernung, den alten Napoleon in seinem Kriegsmantel auf seinem weissen Pferd. . . Man sucht sich von dem Eindruck zu befreien, den diese typische Gestalt macht und sucht sie allein zu sehen, um zu gewahren, wie klein sie ist, wie Meissonierhaft klein Format von Cabinet- und Feinmalerei. Und doch! welch eine Grösse in ihr, welch eine Magie, welch brennende Kraft. Nie ist Napoleon so ähnlich dargestellt worden wie hier, wo er als Toter, als Gespenst dargestellt ist, und welche Wirkung dieses erstaunliche Kunstwerk ausübt, sieht man an den Augen aller Beschauer deutlich; der Kunstkenner und der Nicht-Kunstkenner, alle sind von dieser ergreifenden Vision hingerissen,

Und über alle kommt etwas wie Neid inbetreff dieser glücklichen Soldaten, die Napoleon liebten und die für ihn starben. Die Sehnsucht des Menchen nach etwas Grossem, für das er sich selbst zu Grunde richtet, begreifen sie. beneiden diese Soldatenleben, die einen Inhalt hatten. Von solcher Wirkung sind die umfangreichen Bilder in dem Schlachtenmuseum zu Versailles fern. Man könnte die Thür dieses Museums verschliessen, den Schlüssel fortwerfen --die Lithographieen Raffets sagen mehr. Man könnte noch weiter gehen es brauchten, um von Napoleon zu sprechen, keine weiteren Documente zu existiren, als diese Lithographieen, und man würde den Kaiser und seine fascinirende Kraft begreifen, wenn man Raffet's Lithographieen kennt und Heinrich Heines Gedicht von den "Grenadieren."

HERMAN HELFERICH.

LITTERARISCHE CHRONIK.

NEUE DEUTSCHE ROMANE.

FÜNFUNDZWANZIG JAHRE sind verflossen seit der Aufrichtung des neuen deutschen Kaisertums; ein neuer Staat, eine neue Gesellschaft, eine neue Kunst ist emporgewachsen; noch immer aber harren wir der Dichter, die sich ebenbürtig neben die Männer der That und der Wissenschaft, neben die Meister der Vergangenheit stellen könnten. Kein Prosaiker des letzten Vierteljahrhunderts kann sich an Witz und Wucht des Ausdrucks, an Shakespearischer Bilderkraft mit dem rede- und schreibegewaltigen Bismarck messen; kein junger Lyriker mit Uhland, Heine, Mörike wetteifern; kein Erzähler des neuen Geschlechtes gleicher Liebe der Nation sich berümen, wie Scheffel und Reuter. Was von deutscher Kunst innerhalb dieses Zeitraums erobernd über die Grenze drang, Schopenhauer und Richard Wagner, Helmholtz und Mommsen, stammt aus den Tagen, die der Begründung des Reiches weit vorausgehen, wenn es nicht etwa, wie Gerhart Hauptmanns "Weber," jenseits des Rheines vornehmlich als Rebellenstück willkommen geheissen wurde. Weil nun die Heimat neue weltbewegende Dichter zur Stunde versagt, vielleicht versagen muss wie ja während der Kriege und Siege des ersten Napoléon die deutschen Klassiker alle französischen Poeten unvergleichlich überglänzten-suchen unsere Jungen entscheidende Anregungen in der Fremde. So hat Sudermann vor wenigen Wochen auf dem litterarischen Congress in Dresden unumwunden auf Ibsen, Tolstoi und Zola als die eigentlichen Lehrmeister seiner Generation hingewiesen. Welcher Meinung, über die Wahl dieser Muster man auch sein mag, gewiss istdass diese strengen und überstrengen Richter ihrer Mit

menschen ihren deutschen Jüngern nicht zu geben vermochten, was ihnen selbst fehlte: innere Harmonie. Ganz im Geiste ihrer Vorbilder gingen unsere Neuerer mit grausamer Freude den Schäden und Schwächen unserer kranken Welt nach. Unbekümmert um die welthistorischen Vorgänge im Zeitalter Bismarcks, fernab von jedem Versuch oder Verdacht einer byzantinischen Litteratur waren und blieben sie das böse Gewissen ihrer Landsleute. Bald gab es kein verborgenes oder offenes Laster der herrschenden Klassen, kein kleines oder grosses Leid unserer Arbeiter und Bauern, das uns nicht auf den Bühnen und in den Büchern deutscher Naturalisten heimgesucht hätte. Drama und Roman spielten sich auf das Wunderwerkzeug hinaus, von dem ein feiner Humorist geträumt und gescherzt hat : das Misèrophon. Wie der Apseolonius in Otto Ludwigs "Zwischen Himmel und Erde" hatten unsere Neusten den Katzenjammer von den Räuschen, die sich Andere antranken. In Kunst und Leben sollte alles Faule und Falsche dem Wahren und Gesunden weichen: himmelanstrebende Wünsche, denen leider allzuwenig himmelanstrebende Werke folgten. Noch ist unter den Jungen bisher kein deutscher Balzac oder Dickens, geschweige ein Mann nach dem Herzen Herders erstanden, der vor hundert Jahren in heute mehr denn je zuvor giltigen Worten dem Roman eine unabsehbare Entwicklung als neuestes, ewiges Kunstevangelium geweissagt hat :

Keine Gattung der Poesie ist von weiterem Umfang als der Roman; unter allen ist er auch der verschiedensten Bearbeitung fähig; denn er enthält oder kann enthalten nicht etwa nur Geschichte und Geographic, Philosophie und die Theorie fast aller Künste, sondern auch die Poesie fast aller Gattungen und Arten in Prose. Was irgend den menschlichen Verstand und das Herz interessirt, Leidenschaft und Charakter, Gestalt und Gegend, Kunst und Weisheit, was möglich und denkbar ist, ja das Unmögliche selbst kann und darf in einen Roman gebracht werden, sobald es unseren Verstand oder unser Herz interessirt. Die grössten Disparaten lässt diese Dichtungsart zu, denn sie ist Poesie in Prose.

Mit diesem Maasse, als "Poesie in Prose" gemessen, würden unter tausend Romanen im Durchschitt keine Zehn sich behaupten; glücklicherweise urteilen nicht allein unsere Gewohnheitsleser, sondern die erlauchtesten Geister milder über die Unterhaltungs-Litteratur des Tages. Ein Kenner von der Strenge unseres David Friedrich Strauss konnte Vischer

nicht verhehlen, dass er "in Absicht auf Romane der stoffartigste lebenslänglich 17-jährige Leser von der Welt blieb." Ein Gleiches bekannte Darwin, der allabendlich die jüngsten Moderomane als Sorgenbrecher segnete: Beide in diesem Punkt einer Meinung mit Schiller, der nach der Lectüre von Rétif de la Bretonne Goethe sagte: "Mir, der so wenig Gelegenheit hat von aussen zu schöpfen und die Menschen im Leben zu studieren, hat ein solches Buch einen unschätzbaren Wert." Himmelskost, wie den Don Quixote, Tom Jones, Manon Lescaut, Werther und die Wahlverwandtshaften kann man nicht alle Tage verlangen; bescheiden wir uns desshalb zum regelmässigen Zeitvertreib mit Hausmannskost, spüren wir mit Schiller in frisch und flott geschriebenen Alltagsgeschichten dem wirklichen Leben nach. Gerade daran fehlt's aber oft in Deutschland: wir haben viel zu viel "Bildungsromane" und viel zu wenig geborene anspruchslose Erzähler vom Schlag Wilhelm Hauffs, Spindlers und Hackländers; viel zu viel "denkende Autoren" und viel zu wenig nüchterne, genaue Maler der wirklichen Zustände. Mit dieser scheinbar banausischen Ansicht befinden wir uns in bester Gesellschaft: Anfangs der Fünfzigerjahre schrieb die damalige Leiterin der Westminster Review, die englische Uebersetzerin von Strauss' " Leben Jesu," George Elliott, ihres Erachtens gebühre die Palme des schlechten Romans den Deutschen. Ein Verdammungsurteil, das Turgénjew, sonst ein treuer Verehrer deutscher Dichtung, im Wesentlichen billigte und einer unserer feinsten Kunstrichter, der nahe Freund von Karl Hillebrand und Hermann Grimm, Heinrich Homberger, in einer bedeutenden Studie über den realistischen Roman, dieser Gesinnungsgenossen unkundig, überlegen rechtfertigte. Unsere deutschen Romanschreiber, so erklärt er, sind mehr als einmal belesene, hochehrenswerte, in ihrer Studirstube stets mit den höchsten Problemen und Mustern der Weltlitteratur beschäftigte Priester ihrer Kunst. Sie besitzen Bildung, Begabung, Fleiss für Zehn

Ausgewählte Briefe von David Friedrich Strauss. Herausgegeben und erläutert von EDUARD ZELLER. Bonn, Emil Strauss, 1895, S. 265.

"Heinrich Hombergers Essays," herausgegeben von Ludwig Bamberger und Otto Gildemeister nach dem Tode des Verfassers (Berlin, Wilhelm Hertz, 1892, S. 67 ff.); ein lange nicht genug beachtetes und bekanntes Buch der Weisheit.

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