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Irrtum tiefer. Unbeschadet des Einflusses, den der Kaiser von Deutschland besitzt, heisst es doch die Verhältnisse nicht zutreffend beurteilen, wollte man voraussetzen, dass das deutsche Volk auf irgend einen Machtspruch hin zufrieden wäre, wenn an die Elsass-Lothringische Frage gerührt würde.

In der internationalen Politik sind Illusionen vor allem gefährlich, und so muss man denn überall mit der Thatsache rechnen, dass die Ereignisse des Jahres 1870-71 für das deutsche Volk-die Parteirichtung macht dabei gar keinen Unterschied ein Definitivum geschaffen haben.

Aus den vorhandenen Schwierigkeiten herauszukommen sehen wir in Deutschland nur einen Ausweg. grossen Franzosen hat auf ihn hingedeutet. des Krieges schrieb Ernest Renan :

Einer der Noch während

"Que de questions dans les affaires de cette pauvre espèce "humaine il faut résoudre en ne les résolvant pas ! Au bout de quelques années on est tout surpris que les questions n'existent "plus."

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Freilich sind es nicht einige Jahre; es sind bereits zweiundeinhalb Jahrzehnte, und es mag noch Jahrzehnte währen.

Aber nur die Wunden, meinen wir, sind unheilbar, die den Nationalkörper an einer solchen Stelle treffen, dass sein Wachstum, seine Entwicklung und sein Blühen beeinträchtigt sind. Davon ist in diesem Falle keine Rede. Frankreich ist mächtig und gross; und kein Organ, dessen es zur Entwicklung nationaler Blüte bedürfte, ist verletzt. Verletzt ist die Empfindung; aber gewiss spielt in Frankreich gerade die Empfindung auch eine grosse politische Rolle.

Beeinträchtigt wird der Heilungsprocess zugleich durch Einwirkungen von Aussen-durch Russland. Diese Einwirkungen haben sich seit Jahren zu einem System ausgebildet, das seinen festen Platz im Rahmen der russischen Politik hat; wie sich diese Einwirkungen gerade im Laufe des letzten Sommers gesteigert haben, und wie sie zusammentrafen mit einer stärkeren Reizbarkeit des nationalen Empfindens in Frankreich, das ist gezeigt worden.

Welcher politische Effect ist nun von diesem russischfranzösichen Zusammenspiel zu erwarten?

In Frankreich ist die landläufige Antwort eine zweifache.

Zunächst ist man überzeugt, dass Russland es nicht ruhig mit ansehen werde, wenn Deutschland durch einen kriegerischen Vorstoss eine Schwächung der Republik versuchen wollte; sodann hofft man, dass mit Hilfe Russlands in einer nicht näher bestimmten Weise die Ereignisse des Krieges von 1870 rückgängig gemacht werden würden.

Man kann unbedingt zugeben, dass Russland daran liegen muss, die heutige Machtstellung der französischen Republik aufrecht zu erhalten; eine Schwächung Frankreichs würde die Lage Russlands verschlechtern. Dies nicht zuzulassen, liegt durchaus im eigenen Interesse Russlands; aber liegt es auch im Interesse Russlands die sogenannte Elsass - Lothringische Frage nach den Wünschen der Franzosen aus der Welt zu schaffen? Schwerlich.

Diese Frage gerade ist es, die es Russland immer wieder ermöglicht, den Schraubstock im Westen gegen Deutschland in Bewegung zu setzen; würde diese Frage nicht in der Welt sein, dann wäre Russland sicher nicht in der Lage, sich der französischen Macht in der Weise für die eigenen Zwecke bedienen zu können, wie es jetzt geschieht. Russland liegt also kaum etwas an der Lösung der Elsass-Lothringischen Frage; wertvoll vielmehr ist ihm gerade die ungelöste ElsassLothringische Frage, die, wie die Empfindungen und Illusionen in Frankreich einmal beschaffen sind, die Republik in den Dienst des Czarenreiches stellt. Und diesen Zustand will natürlich das Czarenreich aufrecht erhalten.

Dass Russland einen Kampf mit Deutschland suchen sollte, ist nicht sehr wahrscheinlich. Ein realer Interessengegensatz zwischen beiden Ländern ist nicht vorhanden; ein solcher Kampf müsste daher als ein neuer Eroberungskrieg nach Art der napoleonischen zu Beginn dieses Jahrhunderts erscheinen; wie denn Napoléon auf St. Helena auch einmal das folgende gende gesagt hat:

“Wenn auf den russischen Thron ein tapferer, unternehmen"der und hochbegabter Czar käme, so könnte er bei der Lage "Russlands, seiner Ausdehnung, seinem Klima, seiner unge"heuren Widerstandsfähigkeit sowie der Genügsamkeit und "Ausdauer seiner Bevölkerung ganz Europa erobern. An "seiner Stelle würde ich Calais in bestimmter Zeit erreichen,

"und wäre dann der Herr und Schiedsrichter von Europa "geworden."

Glücklicherweise für die Ruhe der Völker sind die Napoléonskeine häufige Erscheinung, und vielleicht würde auch ein neuer Napoléon durch das Ende des Ersten genügend belchrt sein. Dass aber ohne den treibenden Ehrgeiz einer grossen Eroberernatur Russland sich allein von einem chauvinistischen Delirium gepeitscht auf uns vorwärts stürzen sollte, ist nicht gerade wahrscheinlich. Bisher haben die augenscheinlichen Gefahren eines solchen Unternehmens selbst in Zeiten der Erregung genügend ernüchternd gewirkt.

Es giebt schliesslich noch eine Entwicklung, die mit den Worten angedeutet zu werden pflegt, dass der Weg Russlands nach Constantinopel über Berlin führt, nachdem man früher diesen selben Weg über Wien gelegt hatte. Der Berliner Weg ist jedenfalls noch weitläufiger als der Wiener Weg, der auch niemals beschritten worden ist, und gefahrlos ist die nördlichere Route ganz gewiss ebenso wenig.

Immerhin hat man vorsichtigerweise mit allen diesen Mög lichkeiten auch in Deutschland gerechnet, und unsere eigene Stärke und unsere Dreibund-Alliancen nebst ihren verzweigten Beziehungen von Italien nach England und von Oesterreich nach Rumänien demgemäss eingerichtet.

Allein, viel wahrscheinlicher als die oben bezeichneten Möglichkeiten ist eine andere Entwicklung, und die neueste Phase der orientalischen Frage beweist die Berechtigung dieser Annahme.

Für uns sind die Vorgänge im Orient an sich nicht von unmittelbarem Interesse, aber von hohem Interesse darum, weil sie zeigen, bis zu welchem Grade politische Speculationen, die in Deutschland weit verbreitet sind, der Realität der Thatsachen entsprechen.

Die bulgarischen Zuckungen des letzten Jahres veranlassten Russland noch nicht, seine bis dahin offen dokumentirte Stellung zu Deutschland zu ändern. Begreiflicherweise. Da Russland mit den Verhältnissen in der europäischen Türkei nicht zufrieden ist, so ist ihm jede Erschütterung dieser Verhältnisse genehm, weil eine solche Erschütterung die Möglichkeit einer Aenderung und damit auch die Möglich

keit einer Aenderung im Interesse Russlands näher rückt. Völlig anders geartet ist der Standpunkt Russlands in Bezug auf die asiatische Türkei. Dort will Russland ausschliesslich derjenige sein, der, wenn ihm der Zeitpunkt gekommen dünkt, Erschütterungen herbeiführt, und bis dieser Zeitpunkt da ist, erscheint ihm die Aufrechterhaltung der bestehenden, ihm genehmen Zustände allein erspriesslich.

Als daher die armenische Frage auftauchte, entsprach das augenscheinlich Russlands Wünschen in keiner Weise. Aus welchen Gründen diese Frage so plötzlich die jetzige Form annahm, soll hier nicht eingehend untersucht werden; aber man wird zur Beleuchtung der Vorgänge doch zwei kurze Bemerkungen anfügen müssen.

Seit Jahren wurden zahlreiche Personen, denen ein gewisser Einfluss auf die öffentliche Meinung ihres Landes zugetraut werden konnte, von armenischen Abgesandten aufgesucht, die Sympathieen für ihre Nation rege zu machen unternahmen; und die Fäden, an denen diese Agitation geleitet wurde, ) führten sämtlich nach London. Mag man immerhin mit gutgläubiger Courtoisie dem humanen Empfinden einen Anteil an der Stellungnahme der englischen Politik zuweisen; allein am Ende aller Enden ist Lord Salisbury nicht Minister für internationale Humanität; Mehemed Emin Efendi, der über die Armenian atrocities and the English humanity vom türkischen Standpunkte aus geschrieben hat, verwies für solchen Fall die Engländer auf weit näher liegende Aufgaben. Lord Salisbury ist denn auch, unbeschadet dass in seinem Vaterland das Heim der englischen Bibelgesellschaft ist, vor allem der Premierminister des Vereinigten Königreichs.

Diesem Premierminister, dessen erfahrene Hand man nach seinem Amtsantritt sogleich zu fühlen begann, schiebt die öffentliche Meinung eine doppelte Absicht zu bei der Behandlung, die er der armenischen Frage angedeihen lässt.

Wenn Russland ernste Sorgen an seiner armenischen Grenze hat, so wird es nicht wagen, in der ostasiatischen Frage entscheidende Schritte zu thun; und England gewinnt Zeit, auch für Ostasien seine Vorbereitungen zu treffen; so verknüpft sich die armenische mit der ostasiatischen Frage, den Ausspruch zur Wahrheit machend, dass an Ende des neun

zehnten Jahrhunderts die europäische Politik sich zu einer Weltpolitik, zu einer Politik des Erdenrundes im eigentlichen Sinne des Wortes, erweitert hat. England scheint aber gleichzeitig in Armenien Verhältnisse schaffen zu wollen, die eine erste Grundlage bieten, um dann später auch an dieser Grenze Russlands ein selbständiges Staatengebilde anwachsen zu lassen, wie es in verwandter Entwicklung mit Serbien, Rumänien, Bulgarien vorher geschehen ist; und nur wenn man auf diesem zuletzt gezeichneten Wege schrittweise vorwärts kommt, wird es auch gelingen, Russland genügend lange in Atem und von Ostasien fern zu halten.

Das ist eine Politik mit weiten Zielen, und ein Erfolg wird sich noch viel schwieriger als in Bulgarien erringen lassen, weil in diesem Augenblick nicht nur die latente Gegnerschaft Russlands, sondern auch die offene Gegnerschaft der Türkei zu überwinden ist; dazu kommt, dass die armenischen Verhältnisse sich mit den bulgarischen nicht vergleichen lassen, denn die Armenier fallen religiös auseinander; sie bekennen sich zu drei verschiedenen religiösen Richtungen ; und im Orient bedeutet religiöse Verschiedenheit fast stets bürgerliche Verfeindung; endlich aber sind die Armenier in dem, was sie ihr Land nennen, selbst nur eine Minorität, so dass es schwer genug sein wird, hier die Grundlagen für eine selbständige staatliche Entwicklung zu legen.

Wie weit England kommen wird, hängt zweifellos von dem Umfange der Unterstützung ab, die es bei anderen Staaten, vor allem bei Italien und Oesterreich-Ungarn findet.

Und siehe da, diese Frage realen politischen Interesses brauchte nur an den Grenzen Russlands aufzutauchen, und plötzlich wehte zu uns nach Deutschland ein ganz anderer Wind aus Osten herüber. Die Spannung lässt nach; der Schraubstock drückt nicht mehr auf uns, denn Russland erinnert sich plötzlich, dass in ruhigen Zeiten wohl zur Freude der Boulevards sich mancher antideutsche Spass verüben lässt ; aber die Zeiten werden jetzt etwas ernst, und des zum Zeichen schreibt die halboffiziöse Nowoje Wremja :

"Gewiss wollen wir eine thätige auswärtige Politik, aber sie “soll ganz auf Erhaltung des Friedens gerichtet sein und auf "Wahrung freundschaftlicher Beziehungen zu den Con

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