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LITTERARISCHE CHRONIK.

BRIEFE UND DENKWÜRDIGKEITEN.

I.

EIN Gang durch die Peterskirche gibt auf Schritt und Tritt Gelegenheit, die Wurzeln der Weltmacht des Katholicismus aufzudecken. Vor dem Monument Pauls III. aus dem Haus Farnese wurde Gregorovius von dem Wunsche angewandelt, den Grabdenkmälern der Päpste, als dem "Senat von Göttern oder Hütern dieses grossen Tempels," die Geheimnisse ihres Walreiches abzufragen, in dem der weltferne Bettelmönch wie der höfische Cardinal Statthalter Gottes auf Erden werden kann. Ein Anderer mag angesichts der Marmorbilder der Gräfin Mathilde und der Schwedenkönigin Christine dem Einfluss der Frauen in der Geschichte der römischen Kirche nachsinnen; ein Dritter die Entwicklung der christlichen Kunst vom byzantinischen Erzbild des Apostelfürsten bis zum Kuppelbau Michelangelos aufsteigen lassen. Nirgends aber offenbart sich die menschenbezwingende Macht des Katholicismus sinnfälliger und sinnbildlicher als in den halbkreisförmig aneinandergereihten Beichtstühlen, zu denen Gläubige aller Zungen, Deutsche, Slaven und Wälsche, Wallfahrer aus der alten und neuen Welt, sich drängen. Keine Phantasie kann. ahnen, welche Fülle der Schmach und der Schmerzen vom Grosspönitentiar der Weltkirche, wie vom Klerus der abge

legensten Weltwinkel für ewig unter das Beichtsiegel genommen wurde; kein Erzähler ausdenken, welch' abenteuerliche Lebensläufe, welch' unglaubliche Schicksale im Lauf der Jahrhunderte den katholischen Priestern des Erdkreises anvertraut wurden; kein unbefangener Naturforscher des Menschengeschlechtes bestreiten, wie gewaltig Beichtzwang und Busse rohe Räuber und von Zweifeln zerrissene Denker— den Innominato Manzonis und einen Blaise Pascal-gleicherweise im Innersten ergreifen und umwandeln. Dies Eindringen in die verborgensten Geheimnisse des Seelenlebens jedes Gläubigen durch den geweihten Diener Gottes hat seines Eindrucks auf protestantisch, ja selbst vollkommen heidnisch gesinnte moderne Künstler nicht verfehlt. Kein katholischer Poet hat das Mysterium des Buss-Sacramentes frömmer und erhebender dargestellt als Schiller in der Beichte seiner Maria Stuart; kein geistlicher Gewissensrat das Gemütsleben einer religiösen Frauennatur reiner erfasst als der Dichter des Wilhelm Meister in den "Bekenntnissen einer schönen Seele"; kein Freund und Kenner unserer unübersehbaren Litteratur von Konfessionen tieferes Verständnis ihres Ursprungs bewärt als derselbe Goethe, da er in hohem Alter die Frage aufwarf, ob oder vielmehr wesshalb Protestanten und Freigeister mehr Selbstbiographien schrieben, als die regelmässig zur Beichte gehenden Katholiken?

Die Bemerkung scheint auf den ersten Blick müssig. Rühren die ersten Musterbücher der Selbstbiographie von Augustinus und Dante bis auf Cardanus und Cellini nicht von Katholiken her? Und gedieh von altersher die Memoirenlitteratur nicht weit üppiger in romanischen und katholischen Landen, als im protestantischen Norden? Die Antwort wäre in einem stoffreichen Buch leichter zu geben, als in ein paar beiläufigen Glossen bescheiden wir uns einstweilen mit der Wahrheit, dass die moderne Selbstbiographie erst mit Rousseaus Confessions beginnt. Seine "Bekenntnisse" haben Schule gemacht in der Weltlitteratur. Nirgends ausgiebiger als in Deutschland. Zunächst der Zahl nach (das hat wenigstens ein bedeutender Wiener Kritiker, Rudolf Valdek, der kürzlich als Siebziger starb, in der Sammler- und Forscherarbeit eines Menschenalters statistisch festgestellt). Und nicht

nur die meisten, auch die treuesten und mannigfaltigsten Lebensbeichten gehören dem deutschen Volk. Wir besitzen nicht allein die Krone der ganzen Kunstform in Goethes "Dichtung und Wahrheit"; wir können ohne weiters eine deutsche Geschichte vom alten Fritz bis auf Kaiser Friedrich III. unmittelbar aus den Tagebüchern, Erinnerungen und Correspondenzen unserer Fürsten und Krieger, unserer Staatsmänner und Denker schöpfen.

Die Frauenwelt erweist sich in den Briefen von Goethes Mutter, Caroline Schelling, Rahel, Bettina, Caroline v. Humboldt und Gabriele v. Bülow der Männerwelt ebenbürtig, mitunter wol gar überlegen.* Unsere neueren Dichter beschenken uns (wie zuvor die Klassiker) mit Selbstbekenntnissen, die unvergleichlichen Aufschluss geben über deutsche Art und Kunst: Grillparzers Selbstbiographie und Immermanns Memorabilien, die Correspondenz zwischen Clemens Brentano und Arnim, Hebbels Tagebücher und Gottfried Kellers Briefe, Auerbachs Briefe an Jacob und Freytags Erinnerungen u. s. w. Unsere Maler, Ludwig Richter in den Lebenserinnerungen eines deutschen Malers, Anselm Feuerbach im Vermächtnis, Kügelgen in den Erinnerungen eines alten Mannes, entzücken uns mit der Feder, wie unsere Musiker Mozart, Schumann, Mendelssohn, Wagner, Liszt, Bülow ihresgleichen suchen als Briefsteller. Die Schöpfer des deutschen Heerwesens von Boyen bis auf Roon und Moltke sind auch als Memoirenschreiber unbesieglich. Unsere Politiker, ohne Unterschied der Partei, melden sich immer wieder zu Zeugenaussagen: von Vater Arndt, Metternich, Gentz, Varnhagen und ihren Leuten bis auf Gerlach, Lassalle, Bernhardi, Lothar Bucher, Ludwig Bamberger, jeder ein Anderer, jeder eine unvergessliche Persönlichkeit. Ueber der Erforschung des Universums vergessen die Wortführer unserer Gelehrten-Republik nicht der eigenen Schicksale: so brachten uns die jüngsten Jahre unübertreffliche, unersetzliche Selbstportraits von Ranke, Gervinus, Victor Hehn, Anton Springer, Jacob Henle, Siemens u. s. w. Das Grösste steht noch aus: der Kronzeuge für das Zeitalter Bismarcks hat noch zu sprechen; gilt es doch als offenes Geheimnis, dass Sybel für den letzten *Gabriele v. Bülow, Tochter Wilhelm v. Humboldts. i.-5. Auflage. Berlin, 1895.

Band seiner Geschichte in den handschriftlichen Aufzeichnungen des Altreichskanzlers Ersatz fand für die preussischen Staatsarchive: Bismarck soll seine Denkwürdigkeiten vor Jahr und Tag druckreif abgeschlossen haben.

Nach und vor den Weltbekannten verlangen aber die Unbekannten Gehör, vom "armen Mann im Tockenburg" bis zu den unfreiwilligen Beichtkindern des protestantischen Geistlichen Paul Gochre, der ihre und seine Erlebnisse in dem merkwürdigen Büchlein: "Drei Monate Fabrikarbeiter beschrieben hat. Neben den Ganzen und Grossen regen sich rastlos die Kleinen und Halben, Veteranen des Heeres, Invaliden der Feder, langweilige mittelmässige Gesellen, deren Aufzählung einen homerischen Schiffskatalog fordern und nicht verdienen würde. Wo die Helden Deutschlands reden, wollen auch die Spassmacher nicht schweigen. Die Louis Schneider und Wippchen, Possenspieler der Litteratur, die nie possirlicher wirken, als wenn sie sich ernsthaft geben wollen, wie Julius Stettenheim in seinen mageren, verdriesslichen, sogenannten "Heiteren Erinnerungen." So haben wir in Deutschland zur Stunde mehr Memoirenschreiber als Memoirenleser, mehr Memoirenleser als Memoirenkäufer.

Bei dieser gerechten und heilsamen Selbsthilfe gegen alte und neue "Custode-" und "Waschzettel-Litteratur" lassen es meine Landsleute leider nicht bewenden. Seltsamer Weise kümmern sie sich auch so wenig als möglich um die Lebensbeichten ihrer Lieblinge. Wär' es sonst denkbar, dass die Briefe unseres am meisten in am meisten in die Massen gedrungenen Dichters in keine seiner Ausgaben aufgenommen, noch mehr: dass die erste vollständige Sammlung von Schillers Correspondenz nicht vor dem Jahr 1892 begonnen und bis zur Stunde noch nicht beendigt wurde? Und selbst dieser bescheidene Anlauf wäre kaum gewagt worden ohne den Hinweis von Michael Bernays, dass man in Frankreich keine Sammlung der Werke von Voltaire, Rousseau, Diderot, in England keine Ausgabe von Pope, Swift, Scott, Byron, ja sogar von Southey, Lamb, Gray, Cowper ohne den Briefwechsel für vollständig halten würde. Sein Wunsch, dass jeder unserer Klassiker, * Leipzig, Grunow, in Zehntausenden von Exemplaren verbreitet. † Berlin, S. Fischer, 1896.

Klopstock, Goethe, Herder u. s. w. fortan durch bequem zugänglichen Abdruck seiner Correspondenz "sein eigener Lebensbeschreiber und dadurch zugleich sein eigener Erklärer” werde, ist nicht ganz überhört worden. In einer kritischen Gesamtausgabe liegen Schillers Briefe* vor, die vorläufig nicht entfernt den Absatz schlechter, wolfeiler Uebersetzungen von Ibsen, Zola, Ohnet gefunden und auch in Zukunft schwerlich den englischen Erfolg von Carlyles Sammlung der Briefe Cromwells haben werden. Denn noch sind die deutschen Dutzendleser weit eher geneigt, Schillers Leben in einem Bilderbuch von einem Dutzendbiographen, als von Schiller selbst sich erzählen zu lassen; noch verzichten die Weltkinder auf das Labsal, Schillers eigene Stimme zu vernehmen wie sie Freunden und Blutsverwandten, Lotte und Goethe, Humboldt und Körner Herz und Geist bewegte. Und auch unsere akademischen Führer und Berater in der Kunst zu lesen, waren bisher auf die erziehende, die menschlich und künstlerisch erziehende Bedeutung echter Selbstbekenntnisse nicht ausgiebig genug bedacht. So vermisse ich in den sonst so wolüberlegten Winken von Anton E. Schönbach: Ueber Lesen und Bildung eine besondere Leseliste für deutsche Briefe und Denkwürdigkeiten.

Desto nachdrücklicher pflegen und betätigen die Meister unserer Litteratur ihre Vorliebe für solche Urkunden als der eigentlichen Lebensmuster. Gustav Freytags "Bilder aus der deutschen Vergangenheit" wären undenkbar ohne seine erstaunliche Kenntnis deutscher Lebensläufe und Beichten aller Formen und Zeiten; ohne "seine geschichtlichen Liebhabereien für die Zustände, Leiden und Freuden der Millionen kleiner Leute", ohne seine köstliche Sammlung von seltenen Schriften und Drucken, diesen Stolz und Schmuck seiner Bibliothek. Und Gottfried Kellers Erstlingswerk, "Der grüne Heinrich" verleugnet sein stetes Studium der "Bekenntnisfibeln" der Weltlitteratur sowenig wie seine letzte Novellensammlung "Sinngedicht." Im "Arbeitsmuseum der Dame

* Michael Bernays. Schriften zur neueren Litteraturgeschichte. Stuttgart, Göschen, 1895.-Dr. Fritz Jonas: Schillers Briefe, bisher 6 Bände. Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt.

† Vierte Auflage, Graz, 1895.

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