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Zeitalters" fort zur Naturvergötterung, zur äußersten Entfremdung von der geschichtlichen und sozialen Kultur. Und magisch, wie die Natur auf ihn, wirkten seine Worte auf die Welt; das Wahre seiner Empfindung festzuhalten und zugleich die Welt liebevoll zu umfassen, die ideale Weltanschauung zu versöhnen mit der geschichtlichen, das war das Werk Schillers, der Rousseaus Zauber gewaltig empfand und dennoch überwand. „Der Genius der Poesie" so schildert Fischer diese weltgeschichtliche Leistung ,,kam zu uns, um aus der Idealwelt, die er in Rousseau geboren, einzugehen in die wirkliche, nicht ohne Schmerz und Entsagung, aber mit um so größerer Kraft und gerichtet auf so viel höhere Ziele." Ebenso läßt sich Schillers philosophischer Werdegang in seinem Ausgangs- und seinem Endpunkte durch die Namen zweier großer Persönlichkeiten scharf bestimmen, und schon Rudolf Virchow wußte die „in Kürze meisterhaft“ gelungene Schilderung zu rühmen, ') die Fischer auf diesem Wege entworfen hat. Denn nimmt man sub specie aeternitatis Kant als den bahnbrechenden Vertreter der modernen kritischen Denkweise, der durch seinen drakonischen Rigorismus zugleich der sittliche Erzieher seines Volkes wird, Goethe als den genialen Herzensfünder, vor dessen Alles überschauendem Blicke die Gegensäße sich mild versöhnen in der lebendigen Einheit alles Lebens, so wird man die von Fischer gegebene Formulierung unübertrefflich finden: Zwischen diesen beiden so verschiedenartigen Geistern, von denen der eine die menschliche Natur mit kritischem Scharfsinn zerlegt, während sie der andere in ihrer Lebensfülle dichtet, steht Schiller in einer beweglichen Mitte: er durchmißt den geistigen Zwischenraum, der jene beiden trennt; er geht, indem er philosophiert, von Kant zu Goethe."

4. Doch der Gesamteinfluß einer Persönlichkeit auf eine andere ist naturgemäß ein verhältnismäßig seltener,

1) Goethe als Naturforscher, S. 42.

verglichen mit jenen minder umfangreichen Einwirkungen, die man als,,Entlehnungen" zu bezeichnen pflegt, d. h. mit der Aufnahme in der Litteratur bereits vorliegender Stoffe durch spätere Bearbeiter. Auch hier fragt es sich, ob ein derartiges Thema von wesentlicher Bedeutung oder ob es willkürlich aufgegriffen ist; einzig mögliches Kriterium ist hier der kulturhistorische Wert, den ein Stoff oder Stoffgebiet in sich schließt. Fehlt ein solcher, so handelt es sich einfach um ein Aufspüren von zufälligen Begegnungen in der Wahl eines Themas, deren Ähnlichkeit meist in wenig mehr besteht als in ihrem Titel oder in nebensächlichen Umständen, um Bekundung gelehrter Handfertigkeit; welchen Zweck für das Verständnis der Litteratur soll es denn haben, wenn konstatiert wird, daß eine Anzahl von Dramatikern, ohne von einander zu wissen, zu verschiedenen Zeiten sich etwa den gleichen Helden aus dem klassischen Altertum oder einen mittelalterlichen Kaiser gewählt haben? Wie oft müssen wir mit Fischer ausrufen: „Ähnlichkeit ist noch nicht Abstammung!", und wie lebhaft können wir seinem schneidigen Protest zustimmen: Die Entlehnungssucht ist schon so weit gekommen, daß sie nicht bloß gewisse scheinbare Entlehnungen ohne jede Spur geschichtlicher Nachweisung und ohne jeden erklärenden Nußen zur Geltung bringen möchte, sondern geradezu sinnlose erfindet."

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gegenwärtigen wir uns dagegen Fischers Behandlung der Hauptdramen Lessings; mit Recht findet er ihre kulturhistorische Bedeutung darin, daß sie, ohne Historien zu sein, durch die Weltverhältnisse, von denen sie getragen sind, einen historischen und eminent zeitgemäßen Charakter haben. Das Gleiche gilt von Shakespeares Richard dem Dritten; hier entschied sich der Dichter für einen Stoff, für welchen Phantasie und Bühne vorwiegend gestimmt waren, und der deshalb für ihn selbst die größte Anziehungskraft hatte. Und treffend sagt Fischer von Schillers Gedicht „Die Künstler“: „Sie sind ein vom Zeitgeist gewolltes, von dem Anbruch einer neuen Epoche inspiriertes Gedicht:

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kein Lehrgedicht, sondern Verkündigung einer Mission, die
Goethe und Schiller gemeinsam in den goldenen Tagen
unserer Litteratur erfüllt haben." Man sieht, für solche
Themen hat die Aufstellung historischer Kategorieen ihre
gute Berechtigung, da eine greifbare Koincidenz zwischen
den Zeitumständen und der Wahl des Stoffes stattfindet.
Einen ausgezeichneten Beleg hierfür giebt auch das Auf-
kommen des bürgerlichen Dramas in Deutschland. Früher
galt ein Kanon der Einteilung, wonach die Arten des
Dramas sich wie die Stände und Rangstufen der mensch-
lichen Gesellschaft verhalten sollten: Fürsten und Helden
gehörten in die Tragödie, die bürgerliche Klasse in die
Komödie, die Bauern in das Schäferspiel. Was im Leben
der Fürsten Gewöhnliches und Niedriges geschieht, kam
wie Fischer sich geistreich ausdrückt auf der Bühne „so
wenig zum Vorschein, als in der Etikette der Haupt- und
Staatsaktionen"; was in der bürgerlichen Welt Erschüt-
terndes erlebt wird, war für die dramatische Muse nicht
vorhanden. So hatten sich zwischen der wirklichen Welt
und der dramatischen Kunst traditionelle Schranken auf-
getürmt, die um so unnatürlicher waren, je mehr das
Selbstgefühl des modernen Bürgertums erstarkte: „Die
dramatische Poesie war standesgemäß, sie sollte menschlich
werden; der dritte Stand forderte seine Gleichberechtigung
erst auf der Bühne, dann im Staat: die poetische Revo-
lution war eine Vorläuferin der politischen." Daß für die
Sturm- und Drangperiode analoge Beziehungen stattfinden,
liegt in ihrem Namen ausgedrückt; auch sonst fehlt es nicht
an litterarhistorischen Rubriken, die ein für allemal an-
erkannt sind, und namentlich die Orientierung über das Auf-
treten und die Ausbildung bestimmter Dichtungsgattungen
wird gewöhnlich nur an der Hand der Kulturgeschichte
möglich sein.

Auch das Recht und Unrecht des Aufsuchens von poetischen Motiven" und ihren Quellen, die in den philologischen Untersuchungen eine so große Rolle spielen,

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erleuchtet sich von hier aus. Während die äußerliche Ähnlichkeit von Motiven litterargeschichtlich gänzlich gleichgiltig ist, werden sie zu bedeutsamen Objekten der Forschung, wenn die verschiedenen Formen ihrer Ausbildung durch die entsprechenden Zeitverhältnisse bedingt sind. Ein solches Verhältnis liegt in der berühmten Erzählung von den drei Ringen vor, wie sie Fischer in selbständiger Durchdenkung der vorhandenen Forschungen vorführt. In einem dem ausgehenden Mittelalter angehörigen mönchslateinischen Fabelbuche findet sich ihre älteste Fassung; sinnbildlich wird der Hader der drei Religionen um den echten Ring nach des Vaters Tode dargestellt, und das Ergebnis ist hier, daß die wunderthätige Heilkraft des echten Ringes die Wahrheit der christlichen Religion gegenüber Judentum und Mohammedanismus ans Licht bringt. Aus der alten italienischen Sammlung der hundert Novellen, in welche die Erzählung mit bereits veränderter Tendenz übergegangen war, schöpfte Boccaccio den Stoff zur dritten Novelle seines Decamerone; in seiner Fassung, welche die göttliche Abkunft der Religionen unerkennbar sein läßt, wittert man den Zug der Renaissance. Ihr entnahm Lessing das Motiv, getreu der in den Anfängen seiner litterarischen Thätigkeit bezeugten vorurteilsfreien, ritterlichen Sinnesart, die ihn damals in der Rettung des Hier. Cardanus“ zur Verteidigung der beiden schwächeren Religionen veranlaßt hatte. Bei ihm erscheint im Gewande der alten, enger gedachten Geschichte eine neue, erst in seiner Epoche mögliche Idee; er entdeckte die unbenußte Seite der Parabel und fand in der gegebenen Fabel das Motiv zu einer zweiten, indem er neben der Ähnlichkeit des Symbols auch den Kontrast ans Licht zog. Er läßt zugleich erkennen, in welchem Sinne die Religion aufhört ein Kleinod zu sein; und so endet die Parabel damit, daß sie nicht mehr Parabel bleibt. Die Charakteristik dieser Umwandlung durch Fischer ist ein so bezeichnendes Beispiel für seine Untersuchungsweise, daß eine detailliertere Wiedergabe wohl am Plaze

sein dürfte. In vier wesentlichen Zügen mußte Lessing für seinen Zweck die Überlieferung ändern. Der Ring, der in Melchisedeks Erzählung bloß ein kostbarer Schaß ist, erhält jest herzgewinnende Kraft und Affektionswert. Sodann wird seine Vererbung an die Bedingung geknüpft, daß er durch die väterliche Zuneigung an den liebsten Sohn übergehen soll. Und während der echte Ring noch bei Boccaccio von dem Vater erkannt werden kann, hat er bei Lessing auch in dieser Hinsicht seine alleinige Geltung verloren. Künftig beruht seine Wirksamkeit lediglich auf dem zuverfichtlichen Glauben des Besizers an seine Wunderkraft; mit dem Glauben geht auch seine Magie verloren. Infolgedessen muß auch die Auflösung des Streites eine ganz andere werden. Der sittliche Wert ist nicht mehr vom Befiße des echten Ringes abhängig, sondern umgekehrt; diese Bedingung kennt der Richter, und darum besteht sein Urteil nicht in einer Sentenz, sondern in einem Rat: edle Ge finnung sollen die drei Söhne in Zukunft bethätigen, damit man den Glauben an den Früchten erkenne. Und wenn der bescheidene Richter auf den kommenden weiseren Mann hinweist, dessen Ausspruch er nicht vorgreifen will, so bedeutet dies nach Fischers geschichtsphilosophischer Interpretation: Jest, mitten im Streit der Religionen, ist eine richterliche Entscheidung nicht möglich; nach Jahrtausenden religiöser Fortbildung wird sie nicht mehr notwendig sein.“

5. Ein ganz besonderes Interesse gewinnen die kulturhistorischen Stoffe, wenn an ihrer Ausbildung der Geist der Nation selbst mitgearbeitet hat, also auf dem gesamten Gebiet der Volkssage, des unbewußt schaffenden Mythus. Als geschichtlich gewordenes, objektiv gestaltetes Stück deutschen Volksgeistes, als Urkunde seiner innersten Eigentümlichkeit steht die Faustsage vor uns; die Phantasie von Jahrhunderten ist an ihr thätig gewesen, bis Goethe den nationalen Schaß hob und endgiltig mit dem Stempel seines Genies prägte. Hier kann von äußerlichem Aufraffen und Aneignen nicht die Rede sein; sondern in dem

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