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auch in der Symptomenreihe ein Mittelglied fehlt, so wird uns die Vertrautheit mit der Physiologie dazu dienen, uns die scheinbaren Sprünge im Krankheitsprocesse erklären zu können. Wir wissen ja, dass Nervenarmuth die Ursache davon ist, dass das Ergriffenseyn mancher Organe sich entweder gar nicht, oder erst sehr spät zu erkennen gibt, und dass die, anderen Theilen eigenthümliche hohe Sensibilität selbst die gefahrloseren, sympathischen Affectionen derselben durch deutlichere Symptome unverkennbar verkündet.

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Nicht zu vernachlässigen ist

4) die alte Regel, auf juvantia und nocentia acht zu geben. Es ist rathsam, schon bei der Erkundigung in Beziehung auf die Vorboten sich darüber Gewissheit zu verschaffen, welche äussere Einflüsse Erleichterung oder Verschlimmerung zur Folge gehabt haben. Haben wir Ahnung der entzündlichen Natur einer Krankheit, so wird diese zur höchsten Wahrscheinlichkeit erhoben, wenn wir erfahren, dass aufregende Potenzen eine Verschlimmerung nach sich gezogen, hingegen kühle Luft, kühlende Speisen und Getränke den Zustand verbessert haben. Wenn die Symptome selbst uns in Ungewissheit lassen, so werden wir aber die Ueberzeugung vom Vorhandenseyn eines adynamischen Charakters gewinnen, wenn man uns die Beobachtung mittheilt, dass Weingenuss entschieden vortheilhaft war. Sehr instructiv ist oft der Einfluss der Witterungs- und Temperaturveränderungen. Auf gleiche Weise gibt uns auch die Beobachtung der Nützlichkeit oder Schädlichkeit angewendeter Arznei- oder sogenannter Hausmittel oft sehr befriedigenden Aufschluss. Ich kann hier nicht ins Einzelne gehen. Aber ich erinnere nur beispielsweise daran, dass herpetische Dyskrasie sich zu erkennen gibt, wenn sich der Rand einer, durch ein Vesicator gereizten Stelle der Haut mit einem scharf begrenzten

Kranze von kleinen Bläschen umzieht, dass das schnelle Sinken der Kräfte nach einer Blutentziehung wirkliche Lebensschwäche verräth, dass die Besserung eines zweifelhaft syphilitischen Geschwürs nach Mercurialgebrauch unsere Vermuthungen rechtfertigt, dass endlich unsere Vermuthung eines organischen Fehlers fast bis zur Gewissheit erhoben wird, wenn Arzneimittel aus verschiedenen Reihen und von bestimmt verschiedener Wirkungskraft gar keine Veränderung hervorbringen. Auch hier, wie überall, sind Täuschungen möglich, weil der Schluss post hoc ergo propter hoc bekanntlich höchst unsicher ist, was aber diejenigen Referenten nicht eingestehen, welche sechs bis zwölf Arzneimittel zusammen mischen, und wenn der Kranke beim Gebrauche derselben nicht gestorben, sondern gesund geworden ist, ihre Erfahrungen über die heilsame Wirkung eines, in dieser Mischung enthalten gewesenen Arzneistoffs, auf dessen Lobeserhebung es grade abgesehen war, bekannt machen. Beobachtungsgabe und Logik ist aber nicht Jedermanns Eigenthum.

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Die unerlässlichste Bedingung einer richtigen Diagnose ist 5) Würdigung der vorhandenen Krankheitssymptome.

Hahnemann behauptet, die individualisirende Untersuchung eines Krankheitsfalles verlange von dem Heilkünstler nichts, als Unbefangenheit und gesunde Sinne, Aufmerksamkeit im Beobachten und Treue im Aufzeichnen des Bildes der Krankheit. Man kann jeden verständigen Menschen in kurzer Zeit dahin bringen, eine solche gedankenlose Zusammenstellung der wahrnehmbaren Erscheinungen zu verfertigen. Aber ich verlange viel mehr. Die einseitige Betrachtung der Symptome verschafft uns blos eine Vorstellung von der äusseren, objectiven Seite der Krankheit. Wir müssen aber danach streben, sie in ihrer Totalität kennen zu lernen, um jedesmal das zur Heilanzeige benutzen zu können, was uns den meisten Aufschluss gegeben

hat. Zur Lösung dieser Aufgabe, in so ferne sie überhaupt vollständig möglich ist, dient

das genaue Kranken-Examen.

Dazu ist nur ein gebildeter, mit physiologischen, pathogenetischen und pathologischen Kenntnissen ausgerüsteter Arzt befähigt, vorausgesetzt, dass es ihm nicht an natürlicher Beobachtungsgabe und an Verstand fehlt, um mit der erforderlichen Unbefangenheit die Untersuchung vornehmen zu können. Man kann die Befähigung eines Arztes zu seinem Berufe ganz allein aus der Art und Weise erkennen, wie er einen Kranken examinirt. Sie ist der wahre Probirstein eines ächten Heilkünstlers. Man spricht so viel vom praktischen Blicke. Er ist aber auch in der That ein treffliches Geschenk der Natur, nämlich die Gabe, beim Anblicke eines Kranken durch schnelle Combination eine richtige Vorstellung seines Zustandes zu erhalten. Erfahrung dient nur dazu, es zu grösserer Fertigkeit darin zu bringen; wer aber die natürliche Gabe dazu nicht besitzt, wird sie sich niemals erwerben. Denn es gibt viele Menschen, die den Wald vor lauter Bäumen nicht sehn, und das Talent nicht haben, eine Erfahrung gehörig benutzen zu können. Daher ist auch ein grosser Unterschied zwischen viel wissen und viel können, daher sind die gelehrtesten Aerzte oft sehr schlechte Praktiker. Das Talent kann aber eben sowohl vernachlässigt, als cultivirt werden, und es gibt mancherlei allgemeine Regeln, um dasselbe auf die zweckmässigste Weise zu benutzen.

und

Viele Krankheiten haben so viel ausgezeichnet Objectives, dass man sie sogleich erkennt. Allgemeine Wassersucht z. B. wird nicht wohl mit einer andern Krankheit verwechselt werden, eben so wenig eine stark ausgebildete Brustwassersucht, wo das Oedem der Augenlieder, der geöffnete Mund, die herabhängende blaue Unterlippe und die beschwerliche Respiration mit vorwärts gezogenen Schultern Winke genug geben, um die Fragen richtig zu stellen. Geübte Beobachter besitzen aber die Fertigkeit,

auch bei vielen anderen weniger deutlich ausgeprägten Krankheiten beim ersten Blicke schon zu sehen, wo es fehlt. Diess Talent ist besonders bei der Behandlung kranker Kinder unschätzbar. Wo es uns aber im Stiche lässt, da ist die erste oberflächliche Schilderung der Gefühle und Erscheinungen von dem Kranken selbst oder von Personen aus dessen Umgebung gewöhnlich schon hinreichend, um dem Arzte cine Vorstellung vom Gattungscharakter zu verschaffen, und seinen weiteren Fragen die gehörige Richtung zu geben. Wo es möglich ist,

suche man den Kranken selbst sehen und selbst examiniren zu können. Ich habe vielmals beim Eintritte in das Zimmer und beim ersten, auf den Kranken geworfenen Blick mich überzeugt, dass ich mir nach den vorher erhaltenen schriftlichen oder mündlichen Beschreibungen durch andere Personen ein falsches Bild entworfen hatte. Die Beschreibungen sind häufig ganz unrichtig. Man hat mir vielmals das hübsche, frische Ansehen eines Kranken gerühmt, und wenn ich ihn sah, fand ich die ominöse hektische Wangenröthe. Wenn die Landleute über Schmerzen der Brust klagen, so ist's gewöhnlich Kardialgie, und unter der Collectivbenennung Mutterschmerzen werden die verschiedenartigsten krankhaften Sensationen eines erwachsenen weiblichen Individuums verstanden. Man muss also auch mit den Provinzialausdrücken bekannt seyn, um die Bedeutung derselben zu

verstehen.

Es ist gut, wenn man Charakter und Temperament des zu untersuchenden Patienten kennt, um nicht zu viel und nicht zu wenig Gewicht auf die Beschreibung seiner subjectiven Gefühle zu legen. Aengstliche und empfindliche Personen schildern ihre Leiden immer zu fürchterlich, und sind geneigt, denselben die gefährlichsten Namen beizulegen. Verzärtelte, hysterische Romanleserinnen sprechen gewiss von Krämpfen, wenn sie kalte Füsse haben. Torpide Phlegmatiker nehmen aber wiederum Alles zu leicht, und unterlassen es oftmals, den erheblichsten

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Störungen ihrer Gesundheit so viel Aufmerksamkeit zu schenken, um den Arzt davon benachrichtigen zu können.

§. 48.

Hahnemann verlangt, man soll das Krankenexamen protokollarisch vornehmen, man soll das Resultat desselben sogleich niederschreiben, und zwar mit solcher Genauigkeit, dass das Protokoll die Beantwortung aller Fragen wörtlich enthält. Ich will den Nutzen eines solchen Verfahrens nicht leugnen. Er ist dann besonders gross, wenn der Arzt gar nichts anders zu thun weiss, als nach der Vergleichung der Krankheitssymptome mit den Arzneisymptomen ein Heilmittel auszusuchen. Ich bekenne übrigens, dass ich von dieser Vorschrift abweiche, erstens deshalb, weil ich gerne Alles vermeide, was die Vermuthung einer affectirten Gewissenhaftigkeit erregt, und zweitens, weil ich es nicht unbedingt und durchgängig für nothwendig halte. lächerlich würde es seyn, wenn man in einer Keuchhusten-Epidemie bei jedem einzelnen Kranken ein umständliches Examinations-Protocoll aufnehmen wollte! Es ist aber sehr nützlich, bei der Untersuchung eines verwickelten, undeutlich ausgeprägten und seiner Natur nach schwer zu erkennenden Krankheitsfalles sich Alles aufzuzeichnen, was auf Krankheitsanlage, Entwickelung und weitere Ausbildung Bezug haben kann, auch Alles, was dem Krankheitsbilde die eigenthümlichen Farben gibt, um nachher durch Zusammenstellung und Vergleichung der sämmtlichen Notizen zu einem möglichst sicheren Urtheile zu gelangen.

§. 49.

Das Krankenexamen darf nicht mit den Erscheinungen am Kopfe anfangen und bei den Füssen aufhören, wie die Arzneisymptome nach Hahnemann beschrieben worden sind.

Man lasse sich vom Kranken, wenn er es vermag, oder

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